Für die meisten Inder ist der Glaube an Reinkarnation selbstverständlich. Wie Argumente und bemerkenswerte Fallbeispiele diesen Glauben untermauern.
ch erinnere mich nicht mehr an den Titel des Bollywood-Films. Zwei Helden umwarben dieselbe Heldin, und da diese nicht beide heiraten konnte, war eine mögliche Lösung, dass einer von ihnen stirbt. Tatsächlich kam dann einer der beiden Männer ums Leben, indem er sich für die beiden anderen im Kampf mit bösen Gegenspielern aufopferte. Es war etwas traurig, denn er war ein netter Typ gewesen, und nun war er am Ende des Films tot. Doch dann ertönte überraschend eine Stimme: „Er wird wiederkommen – in einer anderen Form.“ Dieser Satz brachte plötzlich einen philosophischen Blickwinkel ins Spiel. Der Film hatte mich nicht berührt, aber der letzte Satz berührte mich. Das war typisch Indien.
Bereits ganz am Anfang meines Aufenthalts in Indien merkte ich, dass der Tod hier nicht so schrecklich ist. Inder leiden natürlich auch, wenn ein ihnen lieber Mensch stirbt. Doch der Tod ist hier sozusagen ein Teil des Lebens. Er ist sichtbar und nicht so endgültig wie im Westen. Hauptgrund dafür, dass der Tod eben nicht so endgültig ist und etwas von seinem Stachel verliert, ist sicher der Glaube an Wiedergeburt. Dieser Glaube ist im Blut der Hindus, und es ist kein blinder Glaube. Es gibt viele gute Argumente dafür. Das Gesetz des Karma zum Beispiel, nach dem jeder erntet, was er gesät hat, ergibt viel mehr Sinn, wenn man es nicht nur auf ein einziges Leben bezieht. Auch die Unterschiede zwischen den Menschen erscheinen plötzlich in einem anderen Licht. Warum wird ein Kind in einem Palast und ein anderes in einer Hütte geboren? Warum hat ein Baby liebevolle Eltern, und ein anderes nicht? Warum ist ein Mensch krank, und der andere gesund? Warum ist einer intelligent, und ein anderer geistig behindert? Solche Fragen haben keine Antwort und lassen viele an einem gerechten Gott zweifeln. Doch Wiedergeburt ermöglicht eine Erklärung. Es ist alles im Fluss, alles ist in ständiger Veränderung; wer heute weint, mag morgen lachen, und umgekehrt – ein ständiger Kreislauf von Geburt und Tod.
Die Reinkarnationsforschung
Seit mehreren Jahrzehnten unterstützen mehrere Wissenschaftler die Theorie der Wiedergeburt. Obwohl ich Psychologie studiert hatte, entdeckte ich erst in Indien, dass eine umfangreiche Forschung zu dem Thema existiert. Rund 3000 Fälle wurden im Laufe der Jahre systematisch untersucht. Sie sind im Archiv der Division of Perceptual Studies der Universität von Virginia, USA, abgelegt. lan Stevenson, der 2007 im Alter von 88 Jahren starb, war die zentrale Figur dieser Forschung. Er arbeitete unermüdlich mit Wissenschaftlern rund um den Globus zusammen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Wiedergeburt die plausibelste und rationalste Interpretation ihrer Forschungsergebnisse ist. Es darf folglich „vernünftigerweise“ in Betracht gezogen werden, dass es Wiedergeburt gibt, und dass Menschen, die sterben, in einem neuen Körper wiedergeboren werden.
Das ist nichts Neues für Inder, doch im Westen hatte Stevensons Theorie eine gemischte Reaktion. Viele Wissenschaftler weigerten sich, die Möglichkeit einer Wiedergeburt überhaupt in Betracht zu ziehen. Es fiel ihnen offenbar schwer, ihren Kinderglauben, dass jeder nur ein Leben hat, aufgrund dessen Gott entscheidet, ob er im Himmel oder in der Hölle landet, infrage zu stellen. Ian Stevensons größte Frustration war nicht, dass Wissenschaftler seine Theorie verwarfen, sondern dass sie sie verwarfen, ohne sich die Evidenz, die er gesammelt hatte, anzuschauen. „Entweder Stevenson macht einen kolossalen Fehler, oder er wird als der Galileo des 20. Jahrhunderts bekannt“, schrieb ein Psychiater über ihn. Es zeigt, dass westliche Akademiker entweder wie Frösche im Brunnen oder extrem arrogant sind. Ein großer Teil der Menschheit hält Wiedergeburt für selbstverständlich, und doch glaubt dieser Psychiater, dass Stevenson als Erfinder dieser Theorie gefeiert werden wird, sollte sie sich als gültig erweisen.
In Indien arbeitete Stevenson mit Prof. N. K. Chadha von der Delhi University zusammen. Ich traf Prof. Chadha Anfang der 1990er Jahre, und er erklärte mir damals die Methodik seiner Forschung.
Es kommt gelegentlich vor, dass ein Kind, erst drei oder vier Jahre alt, mit der ganzen Überzeugungskraft, zu der es fähig ist, behauptet, eine bestimmte andere Person zu sein, die so und so hieß, so und so gelebt hat und so und so gestorben ist. Wenn der Professor und sein Team davon erfahren, besuchen sie das Kind, sammeln Informationen und versuchen, die Person, die das Kind zu sein behauptet, zu identifizieren und dann alle Informationen zu überprüfen. Es ist viel Arbeit. Im Schnitt sind 30 Besuche, in Gegenden oft abseits jeder Straße, und unzählige Einzelinterviews mit den Familienmitgliedern notwendig, um andere Möglichkeiten auszuschließen, warum das Kind erstaunliches Insider-Wissen über eine Person hat, die vor seiner Geburt gestorben ist. Der Fall gilt als gelöst, wenn Nachforschungen ergeben, dass tatsächlich eine solche Person existiert hat, und wenn alle Angaben des Kindes durch Familienmitglieder des Verstorbenen bestätigt wurden. Dann wird mit Sicherheit angenommen, dass alles, was das Kind über diese Person weiß, echte Erinnerungen sind und es sich um einen Fall von Wiedergeburt handelt. Prof. Chadha hat zusammen mit seinen Assistenten 25 Fälle gründlich untersucht. Elf davon waren zum Zeitpunkt unseres Gesprächs gelöst – zum Beispiel der Fall des kleinen Titu Singh.
Der Fall Titu Singh
Titu wurde im Dezember 1983 in einem Dorf in der Nähe von Agra geboren. Mit vier Jahren begann er zu behaupten, er heiße Suresh Verma, habe ein Radiogeschäft in Agra und sei eines Abends auf dem Nachhauseweg erschossen worden. Er habe zwei Söhne und eine Frau namens Uma. Er sprach detailliert davon, wie er gestorben sei: Demnach war er mit dem Auto nach Hause gefahren und hatte gehupt, damit Uma das Tor aufmacht. Da waren plötzlich zwei Männer auf ihn zugerannt und hatten auf ihn geschossen. Eine Kugel hatte ihn im Kopf getroffen.
Titu war seinen ,,neuen“ Eltern gegenüber aggressiv und nörgelte an ihnen herum. Er ließ sich nicht davon abbringen, dass sie nicht seine richtigen Eltern waren. Die lebten nämlich in Agra, behauptete er stur. Titus älterer Bruder fuhr schließlich nach Agra und war geschockt – fand er doch tatsächlich im Bazar einen ,,Suresh Radioshop“. Er erkundigte sich: Der Inhaber, ein gewisser Suresh Verma, war im August 1983 umgekommen – genau so, wie es Titu beschrieben hatte. Uma, die Witwe von Suresh, war neugierig auf den Jungen, der behauptete, ihr Mann zu sein. Sie fuhr zusammen mit den Eltern und drei Brüdern von Suresh ins Dorf von Titu. Dieser lief sofort freudestrahlend auf seine ,,Eltern“ zu und umarmte sie. Uma warf er einen verlegenen Blick zu, und dann wandte er sich enttäuscht an seine Brüder: Warum waren sie nicht mit seinem Fiat, sondern einem anderen Auto gekommen? Sie hatten den Fiat nach Sureshs Tod verkauft.
Der Junge wurde mit nach Agra genommen. Die Brüder von Suresh Verma – alle erwachsene Männer – wollten ihn testen und am Radiogeschäft vorbeifahren. Doch der Vierjährige riss dem Fahrer fast das Steuer aus der Hand. ,,Stopp, hier ist mein Laden“, schrie er. Im Geschäft machte er einige Bemerkungen zu Neuerungen, die in der Tat nach Sureshs Tod vorgenommen worden waren.
Prof. Chadha und Dr. Antonia Mills von der Virginia University untersuchten den Fall gemeinsam über fast vier Jahre hinweg. Sie gingen äußerst systematisch vor, um eventuelle Widersprüche aufzudecken und um auszuschließen, dass Titu auf normalem Kommunikationsweg zu seinen Informationen gekommen sein könnte. Sie beobachteten ihn und seine Reaktionen genau. Einmal, als Prof. Chadha den kleinen Titu aufforderte, Mahesh, den rund 35-jährigen jüngeren Bruder von Suresh zu grüßen, weigerte der sich: ,,Er ist mein kleiner Bruder“, erwiderte er allem Augenschein zum Trotz (In Indien zollt der Jüngere dem Älteren Respekt.) Die Beziehung zwischen Suresh und Mahesh soll außerdem gespannt gewesen sein, fanden die Forscher heraus. Mahesh war es dann auch, der als Einziger der Familie Verma länger seinen Zweifel hatte: Da Suresh in Agra bekannt war und jeder von dem Mord wusste, könnte der Kleine mit diesen Informationen gefüttert worden sein – vielleicht, um seiner Familie finanzielle Vorteile zu verschaffen, da die Vermas wohlhabender waren als die Singhs, spekulierte er … allerdings nur für kurze Zeit, bis er selber seinen Test vornahm. Er fasste Titu am Handgelenk und ließ nicht locker: ,,Sag mir, was ist während meiner Hochzeit passiert“, forderte er den Jungen heraus. Der antwortete unwirsch: ,,Warum, nichts ist passiert. Ich habe mit Tellern geworfen.” Danach war auch Mahesh überzeugt, denn es stimmte: Suresh verdarb die Stimmung auf seiner Hochzeit, indem er wütend mit Tellern warf.
Den Forschern fiel noch etwas anderes auf: An der rechten Schläfe des kleinen Titu entdeckten sie eine eigenartige Delle. Sie studierten den Autopsiebefund von Suresh und fanden heraus, dass die Kugel genau an der Stelle in dessen Kopf eingedrungen war. Und da, wo sie ausgetreten war, entdeckten die Forscher bei Titu ein sternförmiges Mal.
Erinnerungen an frühere Existenzen und ihr Zusammenhang mit einem plötzlichen Tod im Vorleben
Erstaunlicherweise – oder vielleicht ist es gar nicht so erstaunlich – erinnert sich das Kind in vier von zehn Fällen von Wiedergeburt an einen gewaltsamen, abrupten Tod, entweder durch Unfall oder durch Mord. Dieser passierte im Schnitt im Alter von nur 34 Jahren. Der Zeitraum zwischen Tod und Wiedergeburt ist außerdem signifikant kürzer als bei Fällen, in denen die Person der Erinnerung eines natürlichen Todes gestorben war: Im Fall von Titu waren es nur fünf Monate, und im Durchschnitt sind es immer noch weniger als zwei Jahre. Möglicherweise sind bei vorzeitigem, unerwartetem Tod noch viele Wünsche und Pläne vorhanden. Jemand, der mitten aus dem Leben gerissen wird, mag das Gefühl haben, dass er mit seinem Leben noch nicht fertig ist. Er wird versuchen, möglichst schnell wiederzukommen, um ,,weiterzuleben“. Das starke Interesse am ,,alten“ Leben und die im Verhältnis kürzere Intervallzeit sind eventuell dafür verantwortlich, dass die Erinnerungen leichter zugänglich sind bzw. die Identifikation mit der früheren Persönlichkeit dominiert.
„Glauben Sie persönlich an Wiedergeburt?“, fragte ich Professor Chadha. Seine Antwort war ein klares „Ja“. Die meisten Inder brauchen keinen wissenschaftlichen Beweis. Es ist logisch, die bestmögliche Erklärung für all die Unterschiede zwischen den Menschen. Für uns im Westen ist die wissenschaftliche Forschung jedoch eine Hilfe, von Kindheit an eingefahrene Glaubensmuster zu überdenken. „Wir sind froh, wenn uns Informationen über einen Fall von Wiedergeburt zu Ohren kommen, denn Eltern hören es nicht gern, wenn ihr Kind über ein früheres Leben redet. Es herrscht nämlich der Aberglaube, dass solche Kinder früh sterben. Im ländlichen Indien gibt es sogar Hausmittel, um die Kinder eine frühere Geburt vergessen zu lassen, falls sie sie erinnern – zum Beispiel, sie auf eine Töpferscheibe zu setzen“, erklärte Professor Chadha.
Weitere Beispiele
Abgesehen von der akademischen Forschung, stößt man in Indien auch anderweitig oft auf Fälle, die eine Wiedergeburt vermuten lassen. Die Times of India berichtete zum Beispiel am 17.04. 2008 über einen Jungen, der vor seinem Tod versprach, wiederzukommen. „Their son died, kept promise to return“, war die Schlagzeile. Es war folgendes passiert: Am 29. April 2005 fuhr der 13-jährige Rakesh zusammen mit seinem Bruder auf einem Motorroller zur Nachhilfe. Sie hatten einen Unfall, und Rakesh erlitt schlimme Kopfverletzungen. Er fiel ins Koma und starb fünf Tage später. Doch einige Stunden bevor er starb, wurde sein Vater vom Krankenhaus nach Hause gerufen, weil seine Frau Maniben halluzinierte. Sie behauptete, dass Rakesh vor ihr stand und sich verabschieden wollte. Er versprach wiederzukommen, wenn sie ihn mit einem Lächeln gehen lassen könnte. Sie weinte herzzerreißend. Ihr Mann brauchte lange, um sie zu beruhigen und sie zu überzeugen, sich von Rakesh mit einem Lächeln zu verabschieden. Schließlich sagte die Mutter ihm Adieu, und Sekunden später informierte das Krankenhaus sie, dass Rakesh gestorben war. Ein Jahr später, am 22. April 2006, gebar Maniben einen Jungen, den sie wieder Rakesh nannten. „Jeder in der Familie ist sich einig, dass dieser Rakesh genauso aussieht und sich benimmt wie sein verstorbener Bruder“, sagte sie. Die Times of India veröffentlichte Fotos von den Jungen, als sie beide zwei Jahre alt waren, und die Ähnlichkeit ist in der Tat verblüffend. „Als wir Verwandte in Palanpur besuchten, rief Rakesh nach meiner Nichte Anila. Anila ist jetzt 15 und war Rakeshs Spielkameradin“, erzählte Maniben dem Reporter. „Wir empfinden es als Gnade, dass Gott uns Rakesh wieder zurückgeschickt hat.“
Anandamayi Ma, eine verehrte Heilige, die 1982 starb, bat ihre Devotees, ihre verstorbenen Lieben nicht mit Kummer zurückzuholen. Sie erzählte dazu eine wahre Geschichte:
Ein Ehepaar hatte eine hübsche, intelligente 12-jährige Tochter, die nach kurzer Krankheit plötzlich starb. Die Mutter war untröstlich. Was immer ihr auch Anandamayi Ma empfahl, sie konnte einfach nicht über ihren Kummer hinwegkommen. Eines Nachts träumte ihr Mann von seiner Tochter. Sie saß mit anderen Mädchen ihres Alters in einer wunderschönen Umgebung. Plötzlich löste sie sich von der Gruppe, kam auf ihn zu und umarmte ihn. „Ich kann den Kummer von Mama nicht länger ertragen. Ich komme zu euch zurück“, sagte sie ihm. Einige Monate später wurde den Eltern wieder ein Mädchen geboren.
Reinkarnationsglaube ist verbreiteter, als uns vielleicht bewusst ist
Der Glaube an Wiedergeburt (oder sollte ich „das Wissen“ um Wiedergeburt sagen?) ist uralt – wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Er herrschte im alten Griechenland und im frühen Christentum vor. Jesus selber vermutet, dass Johannes der Täufer der wiedergeborene Prophet Elias sein könnte, wie Matthäus im Kapitel 17, 12–13 des Neuen Testaments berichtete. Doch das 2. Konzil von Konstantinopel etwa 500 Jahre nach dem Tod von Jesus verbot diesen Glauben und vertrat die Doktrin, dass nur ein Leben entscheidet, ob man in den Himmel oder die Hölle kommt. Doch heute, ohne die furchterregende Inquisition im Hintergrund, tanzen viele Christen aus der Reihe. Der Glaube an Wiedergeburt fasst Wurzeln auch im Westen. 20 Prozent der deutschen Christen glauben inzwischen an Wiedergeburt, wie eine Umfrage des Allensbacher Instituts im September 2012 ergab.
Die tibetische Gesellschaft glaubt nicht nur an Wiedergeburt, sondern hat sie sogar institutionalisiert. Wenn hohe Lamas sterben, wird ihre Reinkarnation systematisch gesucht. Der gegenwärtige Dalai Lama, der 14. in der Linie der Dalai Lamas und 1935 geboren, wird als die Wiedergeburt des 13. Dalai Lama, der 1933 starb, betrachtet. In seiner Autobiographie „Mein Leben und mein Volk“ beschreibt er detailliert, wie die Suchgruppe von hohen Lamas ihn in dem abgelegenen Dorf fand und warum sie davon überzeugt war, dass er der wiedergeborene 13. Dalai Lama war.
Doch trotz aller Evidenz für Wiedergeburt gibt es sie auf einer anderen, höheren Wahrheitsebene nicht. „Finde heraus, ob du in diesem Leben geboren wurdest“, forderte der weise Ramana Maharshi einen Besucher auf, der etwas über seine früheren Leben wissen wollte. Und als er einmal gefragt wurde, ob es Wiedergeburt gibt, antwortete Ramana: „Es gibt sie, und es gibt sie nicht.“ Vermutlich meinte er, dass es Wiedergeburt in dieser Welt der Erscheinungsformen gibt. In der absoluten Wahrheit dagegen, wo nur Eines existiert, ist kein Platz für unterschiedliche Personen, die geboren und wiedergeboren werden können.